Die Inder dürfen den Scherbenhaufen, den die Briten hinterließen, nie vergessen,
28/November/2024

Der jüngste Besuch von Ministerpräsident Narendra Modi in der Ukraine, der unmittelbar auf seine umstrittene Umarmung von Wladimir Putin in Moskau folgte, erinnerte die Welt an Indiens merkwürdige Fähigkeit, mit beiden Seiten eines großen Konflikts zusammenzuarbeiten und mit beiden Seiten freundschaftliche Beziehungen zu pflegen. Dasselbe könnte man über Indien wohl auch sagen, wenn es um den Nahen Osten geht. Indien pflegt während des Gazakonflikts enge Beziehungen zu Israel und hält als eines der wenigen Länder ein Repräsentantenbüro in der palästinensischen Hauptstadt Ramallah offen.

Die Außenpolitik bildet wohl eines der wichtigsten Beispiele dafür, wie Indien seine Unabhängigkeit und Souveränität behauptet. Die Inder neigen dazu, sich nicht mit der kolonialen Vergangenheit ihres Landes zu befassen. Im Großen und Ganzen haben wir uns lange geweigert, für 200 Jahre imperiale Versklavung, Ausplünderung und Ausbeutung Groll gegen das Vereinigte Königreich zu hegen. Doch der Gleichmut der Inder in Bezug auf die Vergangenheit hebt die Plünderungen des Britischen Raj nicht auf, ebenso wenig wie die Tatsache, dass in den fast acht Jahrzehnten seit der Unabhängigkeit eine ganze Reihe von Indiens Entscheidungen aus seiner erschütternden kolonialen Erfahrung hervorgegangen sind.

Der Gestalter Nehru

An erster Stelle dieser Entscheidungen stand die Außenpolitik des freien Indiens, deren Steuermann unser erster Ministerpräsident Jawaharlal Nehru war. Seit den Tagen des Freiheitskampfes hatte er für die jährlichen Sitzungen des Indischen Nationalkongresses, des wichtigsten Organs des antikolonialen Kreuzzuges Indiens, Resolutionen zu internationalen Angelegenheiten verfasst. Er genoss eine unangefochtene Autorität als Gestalter und Verkünder der Außenpolitik und setzte dies in seiner siebzehnjährigen Amtszeit als Ministerpräsident fort, wobei er die ganze Zeit über auch das Amt des Außenministers bekleidete.

Nachdem er in internationalen Gremien Ausländer für Indien hatte sprechen lassen und ein Engländer sogar Indiens Delegation beim Völkerbund geleitet hatte, beschloss Nehru, dass Indien in der Welt allein für sich selbst sprechen würde. „Worin besteht die Unabhängigkeit?“, überlegte er einmal laut in der verfassungsgebenden Versammlung Indiens, bevor er prompt antwortete: „Sie besteht im Wesentlichen und grundlegend in den Außenbeziehungen. Das ist der Test für die Unabhängigkeit. Alles andere ist lokale Autonomie.“ Nehrus Außenpolitik ging von Indiens antikolonialem Streben nach Demokratie, Menschenrechten und Selbstbestimmung aus.

Nehrus Indien spielte eine herausragende Rolle beim Aufbau der noch im Entstehen begriffenen Vereinten Nationen und bei der Ausarbeitung einer weltweit akzeptierten Definition der Menschenrechte. So war die indische Feministin und Freiheitskämpferin Dr. Hansa Mehta neben Eleanor Roosevelt, der Witwe des amerikanischen Präsidenten, die einzige weibliche Delegierte in der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen in den Jahren 1947 und 1948.

Von der Blockfreiheit zu einer Mehrfachausrichtung

Gleichzeitig entwickelte Nehru die Doktrin der „Blockfreiheit“, die zum Synonym für seine Außenpolitik wurde. Auf der Grundlage von fünf Prinzipien, die er in der Weltpolitik befolgt sehen wollte – Achtung der Souveränität, Nichtangriff, Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, Gleichheit und friedliche Koexistenz – entwickelte sich die Blockfreiheit, ausgehend von der afroasiatischen Konferenz im indonesischen Bandung 1955, zu einer internationalen Bewegung der postkolonialen Entwicklungsländer. Diese waren entschlossen, sich nicht in den Kalten Krieg verwickeln zu lassen. Die Blockfreiheit war ein direktes Erbe der kolonialen Erfahrung.

Da es heute keine zwei Supermächte mehr gibt, zwischen denen eine Blockfreiheit besteht, und Indien selbst von der reinen Blockfreiheit zu einer Mehrfachausrichtung (multi-alignment) übergegangen ist, könnte man argumentieren, dass Nehrus Vision im 21. Jahrhundert nicht mehr zählt. Doch im Kern ging es bei der Blockfreiheit um souveräne Autonomie; sie sorgte dafür, dass Indien und andere seit Kurzem unabhängige afroasiatische Nationen ihre eigenen Positionen vertreten konnten, ihre Stimmen nicht durch neokoloniale Diktate gedämpft wurden; bei der Nehru-Vision ging es darum, ihre Unabhängigkeit und Selbstachtung vor potentiellen Eingriffen in ihre Souveränität zu schützen.

Die Inder können es sich niemals leisten, den Scherbenhaufen zu vergessen, in dem wir unser Land bei der Unabhängigkeit vorfanden. Was einst eine der reichsten und am stärksten industrialisierten Volkswirtschaften der Welt gewesen war und um 1700 für rund 27 Prozent des globalen Bruttoinlandsproduktes stand, wurde 1947 durch britische Willkür und Ausbeutung zu einer der ärmsten, rückständigsten und ungebildetsten Gesellschaften der Welt degradiert.

Infolgedessen spiegelte Indiens Wirtschaftspolitik lange Zeit auch seinen Antikolonialismus wider. Die instinktive indische Reaktion auf die kommerzielle Ausbeutung durch die Kolonialherren bestand darin, deren Annahmen und Praktiken abzulehnen. Der Befreiungskampf aus der Unterwerfung durch die Briten beinhaltete den Sturz sowohl der ausländischen Herrscher als auch der ausländischen Kapitalisten.

Misstrauen gegenüber weißen Männern mit Aktentaschen

Aufgrund des Kolonialismus brachten die Koryphäen des indischen Nationalismus den Kapitalismus mit Sklaverei in Verbindung: Die Tatsache, dass die Ostindien-Kompanie kam, um Handel zu treiben, aber blieb, um zu herrschen, machte unsere Führer misstrauisch gegenüber jedem Ausländer mit einer Aktentasche, da sie ihn als das dünne Ende eines neoimperialen Keils betrachteten.

Anstatt Indien in das globale kapitalistische System zu integrieren – wie es einige postkoloniale Länder wie Singapur unter Lee Kuan Yew für sich entschieden haben – entschieden die Gründer des freien Indiens, dass die politische Unabhängigkeit, für die sie gekämpft hatten, nur durch wirtschaftliche Unabhängigkeit gewährleistet werden konnte.

1944 forderte eine Gruppe führender Industrieller ein staatliches Monopol in so wichtigen Bereichen wie Energie, Infrastruktur und Verkehr. So wurde Eigenständigkeit zu unserem wirtschaftlichen Credo, die protektionistischen Barrieren wurden hochgezogen, und Indien verbrachte 45 Jahre damit, dass eher Bürokraten als Unternehmer die „Kommandobrücken der Wirtschaft“ beherrschten. Sie subventionierten Unproduktivität, regulierten die Stagnation und versuchten, die Armut zu verteilen.

Unser heutiges Wirtschaftswachstum und unsere globale Sichtbarkeit sind das Ergebnis jüngerer Entscheidungen, die nach der anfänglichen Ablehnung des britischen Kolonialismus und seiner Methoden getroffen wurden. 2016 bemühte sich die damalige britische Ministerpräsidentin Theresa May um indische Investoren; im Jahr 2022 überholte Indien das Vereinigte Königreich und wurde zur fünftgrößten Volkswirtschaft der Welt. Man braucht sich nicht an der Geschichte zu rächen. Die Geschichte ist ihre eigene Rache.

Weiter geprägt von Gesetzen aus der Kolonialzeit

Während die Außen- und Wirtschaftspolitik des gerade unabhängig gewordenen Indiens als Gegensatz zu den Erinnerungen an die koloniale Unterwerfung gestaltet wurde, hat unser parlamentarisches System unseren Unterwerfern nachgeeifert – es hat ein Staatswesen nach dem Vorbild von Westminster hervorgebracht, das meiner Meinung nach nicht gut für Indien geeignet ist. Die zahlreichen Herausforderungen Indiens erfordern politische Arrangements, die ein entschlossenes Handeln ermöglichen, während unsere zunehmend das Abdriften und die Unentschlossenheit fördern.

Indien wird auch weiterhin von regressiven Gesetzen aus der Kolonialzeit geplagt. Als die Briten 1863 ein indisches Strafgesetzbuch (Indian Penal Code, IPC) einführten, das bis 2023 Bestand hatte, sattelten sie Indien archaische Vorurteile auf, die sie zu Hause längst aufgegeben haben, die aber in Indien größtenteils noch immer fest verankert sind und Millionen von Menschen unsägliches Leid zufügen.

Unter anderem – und das sind nur zwei Beispiele – kriminalisierte das Mitte des 19. Jahrhunderts von den britischen Imperialisten entworfene Strafgesetzbuch (Indian Penal Code, IPC) Homosexualität und führte den drakonischen Straftatbestand der „Aufwiegelung“ ein. In den bislang zehn Jahren der Herrschaft der Regierungspartei Bharatiya Janata Party (BJP) unter Ministerpräsident Narendra Modi hat er nicht einmal Universitätsstudenten verschont, die Slogans riefen. Und dies alles dank der lockeren, kolonial motivierten Formulierung des Gesetzes.

Der Einfluss der Gesetze aus der Kolonialzeit ist in den polizeilichen Praktiken, die eher einer Kultur der Unterdrückung als des Schutzes der Gemeinschaft entspringen, nur allzu deutlich zu erkennen.

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Als wir in Indien an der Vision unserer Gründer festhielten und uns bemühten, aus dem sozioökonomischen Elend herauszukommen, in das uns der Britische Raj gestürzt hatte, wurde uns klar, dass eine der historischen Lektionen darin besteht, dass die Geschichte manchmal die falschen Lehren erteilt.

Unsere postkolonialen Herrscher schwingen oft die Kontroll- und Repressionsknüppel der Kolonialherren und setzen sie gegen ihre eigenen Bürger ein. Um wirklich frei zu sein, müssen wir unsere Praktiken, Gesetze und Einstellungen dekolonisieren; wir dürfen uns auch nie davor scheuen, zu erkennen, dass eine Politik oder ein System – sei es ein koloniales Überbleibsel oder ein antikoloniales Instrument – nicht für uns funktioniert.

Echte Freiheit und Dekolonialität zeigen sich schließlich in unserer Fähigkeit, uns anzupassen, zu verwerfen und zu erneuern, um eine Zukunft anzustreben, die unsere eigene Vision widerspiegelt und nicht die Schatten unserer Vergangenheit.




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